Wer würdigt verinnerlicht

Lange habe ich überlegt, welches Bild diesem Artikel zugrunde liegen soll. In welche Sprache ich meine Worte legen würde. Wohin mich meine Erinnerungen führen würden. Nach langer Überlegung entschied ich mich dafür: Das Titelbild muss weiß sein. Frei. Eine freie Fläche, die zum Verbildlichen, zum Verinnerlichen zwingt. Auch entschied ich mich, dass das allein nicht ausreichen würde. Dass meine Gedanken eine Verortung, eine Flussrichtung bräuchten. Also füge ich ein zweites Bild aus den 90er Jahren hinzu. Für mich. Aus dem Familienarchiv einer kurdischen Familie. Für jene, deren ähnlichen Erinnerungen in der Tiefe liegen. Tief verborgen, äußerlich ungeborgen, gesellschaftlich verworfen. Ich lade all diese Jene ein, dieses zweite Bild mit ihren Bildern zu erweitern. Diese Tiefe zu brechen.

Anlass für diesen Artikel bildet eine Erfahrung, die ich im Januar dieses Jahres gemacht habe. Als Teil meines Mercator-Kollegs nahm ich an einem Sicherheitstraining an einem Ausbildungsort für die Vereinten Nationen teil. Bevor ich daran teilnahm, grübelte ich vor mich hin. Auszubildender des Trainings war nämlich die Bundeswehr, die sich durch Rechtsextremismus und den zwanzig Jahre andauernden Einsatz in Afghanistan keinen guten Namen machte. Auch stehe ich Militarismus kritisch gegenüber und möchte für eine Welt eintreten, in der dieser keinen Status quo darstellt. Auf der anderen Seite komme ich aus einer Arbeiter*innen-Familie, die sich mit dieser Art von Seminaren nicht auskannte. Weil ich mein Kollegjahr dafür nutzen wollte, die fremde Welt der Diplomat*innen kennenzulernen, und man mir versicherte, dass die Bundeswehr nichts daran verdient, nahm ich trotzdem daran teil. Wohlwissend, dass ich später sehr wahrscheinlich negative Gefühle wie Scham und Schuld fühlen würde.

Diese negativen Gefühle mögen zwar nicht den einzigen Grund für diesen Artikel darstellen, so tragen sie doch einen erheblichen Teil dazu bei. Denn: Sie sind es, die mich ganz gemäß der Vergesellschaftung von Ideen, von Wissen als Kapital, zum Verfassen dieses Blogposts bringen.

Um diese Absicht zu verstehen, ist es hilfreich, sich das Ziel des Seminars vor Augen zu führen. Das Seminar wird mehrmals im Jahr veranstaltet, um deutsche Fachkräfte auf ihren Einsatz in Krisengebieten vorzubereiten. Die Weiterbildung dauert fünf Tage und umfasst theoretische Sitzungen sowie praktische Übungen. Von Minenfeldern über Checkpoint-Kontrollen und Erster Hilfe bis hin zu Entführungen ist alles dabei. Manche Arbeitgeber*innen setzen die Teilnahme an diesem Seminar voraus, wie zum Beispiel die International Crisis Group. Die Gründe dafür sind unterschiedlich, sicherlich handelt es sich auch um eine Versicherung für die Institutionen, die einen in diese Krisengebiete entsenden. Dass sie einem zumindest sagen können, sie hätten einen über die Gefahren aufmerksam gemacht und einem beigebracht, wie man sich selbst schützt. Wie man lebend aus lebensgefährlichen Situationen entkommen könnte.

Es stimmt, dass die Frage nach dem Überleben mich nicht nur bei diesem Seminar beschäftigt hat. Als Mitglied eines staatenlosen, schutzlosen Volkes gehören Genozide und Gewalt fast schon zur Tagesordnung. Trotzdem würde ich lügen, wenn ich sagte, dass sie mich schon einmal über einen so kurzen Zeitraum je so intensiv beschäftigt hätten.

Dabei ging es mir bei dem Seminar nicht bloß um die Frage, warum es Kontexte gibt, die eine Auseinandersetzung mit dieser Frage notwendig machen. Welche strukturell-materiellen Bedingungen schaffen und erhalten solche Kontexte etwa? Andere, wie ich finde, ebenso dringende Fragen, ließen mich nicht los. Sie nagten an mir in dunklen Räumen, während wir von den uns "entführenden Milizen" angeschrien wurden. Warum ich, Kind von Geflüchteten, Kurdin, Frau, Arbeiterkind, nun das Privileg haben sollte, darüber nachzudenken, wie ich mich in solchen Krisengebieten schützen könnte? Warum ich eine solche Weiterbildung erhielt, während es für andere, so viele andere, eine gelebte tagtägliche Realität ist? Ob die Bundeswehr ihr Versprechen wirklich halten würde, sie würde jede*r deutsche Staatsbürger*in – auch mir – helfen? Und warum sollte mein Körper mehr wert sein als die der Menschen in den Krisengebieten? Ich konnte nicht anders, als darüber nachzudenken, wie das womöglich einer der Gründe war, warum man afghanische Ortskräfte im Stich ließ. Stattdessen wurden Sitzplätze an Hunde vergeben. Körper wurden zurückgelassen. Afghanisches Leben.

Scham und Schuld begleiteten mich seither. Aber auch ein Gefühl der Verantwortung, ironischerweise auch eines der Erleichterung. Ich weiß, dass mein weißes Bild nicht weiß ist. Mein Bild hat viele Farben, zeichnet und spiegelt. Hält an denen fest, deren Bilder in der Ferne liegen.

Während einer Übung sollte ich beispielsweise eine Situation beobachten. Die Situation stellte den Einsatz von Blauhelmen dar. Für diejenigen, die Blauhelme nicht kennen: Sie bestehen aus Soldaten und zivilen Experten verschiedener Nationen und bilden eine internationale Friedenstruppe der Vereinten Nationen. Entsendet werden sie, so heißt es, um humanitäre Hilfe zu leisten, Waffenstillstände zu überwachen und die Sicherheit für lokale Bevölkerungen zu gewährleisten. Doch in jenem Moment konnte ich nicht anders, als an Srebrenica und Bosnien zu denken. Das mag für viele vielleicht an den Haaren herbeigezogen sein, für mich jedoch, die sich fünf Jahre lang im Studium unter anderem mit internationalem Recht und dem Genozid an den Bosniaken auseinandersetzte, waren diese Gedanken nicht verwunderlich. Unter Anwesenheit dieser Blauhelme töteten 1995 serbische Kräfte über 8000 bosniakische Jungen und Männer. Innerhalb weniger Stunden. Auch Frauen und Mädchen blieben nicht unverschont vom serbisch-kroatischen Faschismus. Das jüngste bekannte Opfer in Srebrenica war ein neugeborenes Baby namens Berina Hamidović. Sie wurde am 13. Juli 1995 geboren und war erst wenige Tage alt, als sie und ihre Familie getötet wurden. Mein erstes weißes Bild gilt den bosniakischen Überlebenden, die sich widerständig und beständig für ihre Getöteten und Geliebten einsetzen. Sie erinnern und verinnerlichen ihre Gesichter auf ewig. Sie tragen Worte in sich, als gäbe es nur ihre Wahrheit.

Immer wieder wurde uns gesagt, dass wir in Fällen von Entführungen versuchen sollten, zu kooperieren, auf den Willen der Entführenden einzugehen und auch die Wahrheit zu sagen. Wenn man zum Zeitpunkt der Entführung lebt, stehen die Chancen gut, lebend zu entkommen. Aus Erfahrung lässt sich sagen, dass Milizen und Entführende oft einfach nur Geld wollen. Aus diesem Grund gibt es zum Beispiel private Sicherheitsunternehmen, die sich auf die Befreiung entführter Personen spezialisiert haben. Diese Unternehmen werden oft von Regierungen oder Privatpersonen beauftragt, um bei der Befreiung von Geiseln zu helfen. Sie verfügen über Fachkenntnisse in den Bereichen Verhandlung, Sicherheitsmaßnahmen und Befreiungsaktionen. Auf diese Expertise könne man sich verlassen.

Als ich im Bus saß und meinen Kopf mit Blick nach unten halten musste oder später meine Arme wie bei den Sportübungen ausstreckte, kamen mir die vielen kurdischen Menschen in Erinnerung. Jesidinnen, die vom IS versklavt und ihrer Familien beraubt wurden. Andere, vor allem politische Gefangene, die in Diyarbakir/Amêd, im Amna Suraka-Gefängnis in Sulaimaniyya oder dem berüchtigten Evin Gefängnis durch den Shah und auch das islamische, iranische Regime zu Tode gefoltert wurden. Kinder, die an diesen Orten geboren wurden. Nicht etwa, weil sie etwas Schlimmes begangen hätten, sondern weil autoritäre Regime scheinbar frei jeder Freiheit ein Ende setzen können. Wie viele Kinder und Mütter an diesen Orten voneinander getrennt wurden, wie viele unter ihnen immer noch nach Gerechtigkeit streben. Wie viele von ihnen nicht kooperiert haben. An diesen Orten gefangen zu sein, bedeutet Unrecht in jeder Hinsicht. Meine Finger gruben sich in den Sitz vor mir. Ich versprach mir, niemals zu vergessen. Mein zweites Bild widme ich ihnen, den niemals vergessenen politischen Gefangenen.

Ich lade all die anderen ohne Bild dazu ein, sich eines zu verinnerlichen. Sich vor Augen zu führen, warum wir uns politisch engagieren. Für die Möglichkeit des Austauschs. Für Freiheiten. Für die Würde von Menschen und für ein würdevolles Leben. Es soll erinnern und uns mahnen, dass die Würde von Menschen weltweit täglich verletzt wird. Ihr Schutz kann deshalb nicht allein in den Händen des Staates liegen. Ereignisse wie Genozide, Massenverbrechen und Menschenrechtsverletzungen machen  deutlich, dass staatliche und internationale Institutionen versagen können und nicht selten auch versagen wollen, wenn es darum geht, die Würde und die Rechte von Menschen zu schützen. Es muss klar sein, dass Afghanistan nicht nur das Versagen in Afghanistan war, sondern ein Versagen an der Menschlichkeit. Ein Versagen am Schutz der menschlichen Würde, die uns allen zuteilwerden muss.

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